Land unter
Die Wachau gilt als eines der schönsten Gebiete Österreichs. Doch immer wieder werden die Bewohner des Weltkulturerbes von starken Hochwässern geplagt. Hohe Dämme würden die Landschaft verschandeln und dem Tourismus schaden. Hydrologen suchen nach immer neuen Wegen, um die Wassermassen im Zaum zu halten.
Renate Graf wusste, worauf sie sich einließ. Als sie 1999 ein Haus in der österreichischen Wachau, wenige Meter vom Ufer der Donau entfernt, erbte, eröffnete sie darin eine Heurigenstube. Die Erinnerung an das große Hochwasser acht Jahre zuvor war da noch allgegenwärtig. Loiben, der kleine Ort in einer Donauschlinge, lag damals in Trümmern. Graf plante voraus. Ließ Schränke hoch über dem Boden installieren; darunter ausschließlich Küchenmöbel aus rostfreiem Stahl mit einer Kunststoffunterfütterung. Kurz: Sie war vorbereitet. Als die Donau im März 2002 dann über die Ufer trat, halfen Personal und Familie dabei, die schweren Lärchen-Tische und Bänke im Gästebereich in das Obergeschoß zu tragen. Die Eingänge wurden mit Holzplatten und Brunnenschaum abgedichtet. Dennoch stand das Lokal 80 Zentimeter tief unter Wasser. „Damals war das nicht so schlimm. Wir waren gut versichert und da zu dieser Zeit ohnehin noch viel geraucht wurde, kam es uns gelegen, dass wir die Wände neu ausmalen mussten“, erzählt Graf. Innerhalb von einer Woche sperrte sie ihren Heurigen wieder auf. 7.000 Euro Schaden hatte das Hochwasser angerichtet. Nicht einmal fünf Monate später stieg der Pegel der Donau erneut. Graf war verzweifelt. Sie wollte wissen, was sie erwartet; würde die Donau höher steigen, als im März? Bei der Hotline des Hydrographischen Dienstes hing sie eine halbe Stunde in der Warteschleife, lernte um ein Uhr früh, einen Hydranten zu öffnen und flutete ihre eigene Gaststätte, um den gröbsten Schlamm draußen zu halten. Das Wasser trat über die Ufer, floss über die Bundesstraße und bedeckte den Parkplatz des Lokals. Dann stieg der Pegel immer weiter, bis die Donau über die Oberkante der drei breiten Holzplatten schwappte, mit denen Graf ihre Eingangstür dämmte. „Drinnen hörte ich nur ‚Klirr klirr klirr‘“, erzählt sie. Also besorgte sie ein Schlauchboot, sammelte die Gläser ein, die im Lokal umhertrieben und versuchte zu retten, was noch zu retten war. 2,30 Meter tief stand das Lokal da unter Wasser. Als die Donau wieder abfloss und nur Schlamm, Steine und Scherben übrig blieben, wurde Graf das Ausmaß der Katastrophe bewusst. 50.000 Euro Schaden hatte das Hochwasser angerichtet. „Da der ganze Ort betroffen war und fast alle Küchen zerstört worden waren, mussten wir bei uns umso schneller aufräumen. Ich habe dann für das ganze Dorf gekocht. Die Menschen waren froh, dass sie im Ort essen gehen konnten.“ Innerhalb einer Woche eröffnete Graf ihren Heurigen wieder. Nachts liefen im Lokal acht Luftentfeuchter, die jeden Tag etwa 400 Liter Wasser aus der Luft saugten. Tagsüber aßen die Einwohner gemeinsam mit den Feuerwehrleuten, die den Ort vom Schlamm befreiten.
Dem Fluss Platz geben
Loiben liegt neben Dürnstein, der sogenannten Perle der Wachau. Hunderttausende Touristen kommen jedes Jahr hierher, um die Blüte der Marillenbäume, wie die Österreicher ihre Aprikosen nennen, zu bewundern und die Landschaft zu genießen. Hier schlängelt sich auf einer Länge von 40 Kilometern die Donau durch die hügelige Landschaft, vorbei an alten Burgruinen, Weingärten, prunkvollen Kirchen und Nadelwäldern. Hohe Dämme würden Renate Graf und ihre Nachbarn vor den Wassermassen der Donau schützen, doch das würde bedeuten, den Blick auf die Donau zu verdecken, Touristen abzuschrecken und möglicherweise den Titel Weltkulturerbe von der UNESCO aberkannt zu bekommen. „Außerdem reichen bei einem großen Hochwasser wie dem von 2002 Dämme nicht mehr aus“, glaubt Feuerwehrkommandant Andreas Herndler aus Krems. Dann müsse man dem Wasser Platz geben. Auen, vor allem an Flussbiegungen, dienen als Flächen, auf denen sich Wasser ausbreiten kann. Auch wenn sie nur wenig Einfluss auf Hochwässer haben, können sie diese doch ein wenig mindern. In der hügeligen Landschaft der Wachau gibt es dafür aber kaum Platz. Darum entschied man sich in den letzten Jahren dazu, alte Seitenarme der Donau, die im Zuge ihrer Regulierung trocken gelegt worden waren, wieder zu öffnen. Heute durchfließt der Fluss wieder permanent einen Arm bei Oberloiben und einen bei Arnsdorf. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen aktiven und passiven Hochwasserschutzmaßnahmen. Aktive Maßnahmen, wie die Öffnung der beiden Donau-Altarme, greifen in den Prozess des Hochwassers ein und verändern ihn. Lenken also das Wasser weg von Siedlungen und reduzieren die Gefahr für Menschen in einem bestimmten Gebiet. In kleinen Wildbächen können das Rückhaltesperren sein. Barrieren, die Wasser, Schlamm, Holz und Steine zurückhalten und die Energie des Fließprozesses reduzieren. In großen Flüssen sind es Dämme, Deiche, Mauern oder Retentionsräume wie künstlich angelegte Wasserrückhaltebecken; diese sind entweder im Nebenschluss oder im Hauptschluss angeordnet. Im Nebenschluss liegen sie dann, wenn das Wasser auf einer Fläche neben dem Fluss zurückgehalten wird. Retentionsräume im Hauptschluss befinden sich direkt im Gewässer und finden sich typischerweise bei Flusskraftwerken. Letztere halten aber vergleichsweise wenig Wasser zurück und haben auf große Hochwässer deshalb meist kaum Einfluss.
Passive Maßnahmen konzentrieren sich unter anderem auf den Schutz von Objekten, verhindern aber kein Hochwasser. Dazu gehören nicht nur auftriebssichere Öltanks und hochgezogene Kellerschächte, sondern auch Evakuierungs- und Gefahrenzonenpläne. „Ein großes Problem“, beschreibt Günter Blöschl, Leiter des Instituts für Wasserbau und Ingenieurhydrologie der Technischen Universität Wien, „ist nämlich, dass Menschen in Gebiete bauen, die die Flüsse brauchen, um sich auszubreiten.“ Wenn ein Gebiet durch Schutzmaßnahmen gesichert wird und der Gefahrenzonenplan diese Zone als sicher auszeichnet, bauen Menschen ihre Häuser näher an das Gewässer. Bricht der Deich dann, ist der Schaden in Summe größer als er es ohne Schutzmaßnahmen gewesen wäre. Forscher sprechen hier von der Soziohydrologie, also der Erforschung des Wechselspiels zwischen menschlicher Tätigkeit, wie etwa dem Bau von Häusern, und dem Naturgefahrenprozess.
Eine Trillion Wassertropfen
Doch was bringt die Donau eigentlich dazu, ihr Flussbett zu verlassen? Bei der Schneeschmelze im Frühjahr läuft Wasser die Berghänge der Alpen hinunter und gelangt so in Bäche und Flüsse, die den Inn speisen. Der Inn wiederum mündet im bayerischen Passau in die Donau und bringt das Wasser aus den Alpen mit. Genauso wie die Isar oder die Iller. Hydrologe Blöschl und sein Team beobachten, wie sich Wasser auf solchen Hängen verhält. Dazu installieren sie im Freiluftlabor Kameras, die die Wasserbewegungen beobachten. Bohren in den Untergrund, um zu erfahren, wie schnell das Wasser wie tief versickert und welchen Weg es nimmt. Die Bohrungen reichen manchmal nur bis zum Grundwasserspiegel in etwa zehn Metern Tiefe. Oft führen die Wissenschaftler aber auch geophysikalische Messbohrungen durch, bei denen ein Bohrkopf 200 Meter tief in den Boden getrieben wird. So berechnen sie die Infiltrationsfähigkeit des Wassers in einer Fläche. „Wir messen die Bodenfeuchte im obersten Meter des Untergrundes und schauen dann, wie schnell der Tropfen ins Grundwasser gelangt. Das Ergebnis: Auf jedem Hang, den wir untersuchen, passiert etwas anderes“, sagt Blöschl. Wasser versickert dabei weit schneller, als man denkt. Man spricht von der Infiltrationsfähigkeit des Wassers in einer Fläche. Landwirtschaftliche Drainagesysteme, etwa 70 Zentimeter unter der Oberfläche, können bereits nach etwa zwei Minuten Regen überlaufen. Vorausgesetzt, der Boden ist trocken. Die Infiltrationsfähigkeit wird nämlich stark durch die Bodenfeuchte beeinflusst. Ein feuchter Boden nimmt weniger Wasser auf, als ein trockener. Ist der Boden also von einem mehrtätigen Regen mit Wasser gesättigt, ist ein Hochwasser wahrscheinlicher, als nach Wochen mit viel Sonnenschein, da das Wasser nicht versickern kann.
Welcher Anteil eines Regenfalles sich unmittelbar im Fluss wiederfindet, schwankt stark und hängt von vielen Faktoren ab. Regnet es in ein und demselben Gebiet fünf Stunden lang, und der Boden war bereits nass oder ist noch mit Schnee bedeckt, können es 70 Prozent des Wassers sein. War es im selben Gebiet aber heiß und trocken, können auch nur zehn Prozent des Regenwassers im Fluss landen, da der Rest in der Landschaft versickert. Außerdem ist die Beschaffenheit des Geländes ein wichtiger Faktor. In bergigen Gebieten regnet es öfter. Dazu kommt, dass Wassertropfen auf einer steilen Oberfläche dazu neigen, schneller abzulaufen. Und was der einzelne Wassertropfen macht, ist für die Forscher von besonderem Interesse. „Denn ein Hochwasser ist nichts anderes, als etwa 10 hoch 18 Wassertropfen“, schmunzelt Blöschl. Eine Trillion, also. Die Hydrologen der Technischen Universität Wien untersuchen Hochwässer in allen Skalen, also Größen. „Wir beobachten einen Regentropfen. Schauen uns an, worauf er landet. Begleiten seinen Weg, wenn er oberflächlich abrinnt. Beobachten, wie er in Poren im Boden versickert, ins Grundwasser abläuft oder verdunstet“, erzählt Blöschl. Im 60 Hektar großen Freiluftlabor der TU Wien im niederösterreichischen Petzenkirchen gehen die Hydrologen etwa der Frage nach, ob Hochwässer wahrscheinlicher sind, wenn der Niederschlag gleichmäßig oder ungleichmäßig verteilt ist. „In der Hydrologie ist die Landschaft das Versuchsobjekt“, sagt Blöschl.
Wahrscheinlichkeitsrechnungen
Gemeinsam mit seinem Team berechnet er mögliche Überflutungen für alle Flüsse in Österreich. Das sind Gewässer mit einer Lauflänge von 30.000 Kilometern. Die Wissenschaftler erstellen Landkarten, in denen sie ausweisen, welche Gebiete gefährdet sind. Diese Karten werden auch für die Raumplanung und für Bebauungspläne verwendet. Doch wie wird die Hochwasserwahrscheinlichkeit eigentlich berechnet? Nehmen wir als Beispiel den Inn zur Hand: Seit dem Jahr 1951 gibt es dort eine Messstelle, an der der Abfluss, also die Wassermenge, über Wasserstands- und Fließgeschwindigkeitsmessungen kontinuierlich erfasst und dokumentiert wird. Der Maximalabfluss jedes Jahres wird für statistische Analysen herangezogen. Bislang hat man also 68 Maximalabflüsse gemessen. Je länger die Zeitreihe ist, desto genauer kann die Abflussspitze eines jährlichen, fünfjährlichen oder hundertjährlichen Hochwassers berechnet werden. Für Hydrologen ist der entscheidende Faktor nämlich stets der Abfluss des Wassers und nicht der Pegelstand. Denn breitet sich das Wasser auf die Umgebung des eigentlichen Flussbettes aus, steigt der Pegel nicht weiter an, während der Querschnitt des Flussbettes und die Wassermenge drastisch größer werden. Der Abfluss errechnet sich aus dem Produkt der mit Wasser benetzten Querschnittsfläche des Flussbettes mal der mittleren Geschwindigkeit des Wassers in diesem Querschnitt. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, die zum selben Abfluss führen können: Entweder das Wasser läuft schnell, dann ist die Querschnittsfläche eher klein. Oder es läuft langsam; dann kann man von einer großen Querschnittsfläche ausgehen.
Ein hundertjährliches Hochwasser wird als HQ100 bezeichnet. Das ist ein Hochwasser, das im langjährigen Mittel mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Hundertstel in einem Jahr auftritt oder überschritten wird. Solche Hochwässer können also auch in zwei aufeinanderfolgenden Jahren auftreten und nicht nur einmal in einhundert Jahren. So können Wissenschaftler Prognosen darüber aufstellen, ob Hochwässer in Zukunft häufiger auftreten werden. Nördlich des Alpenhauptkammes ist die Anzahl der Hochwässer in den letzten 50 Jahren zwischen zehn und 20 Prozent gestiegen. Dafür gibt es laut Blöschl drei Gründe: Das Klima, also mehr Regen und weniger Schnee aufgrund höherer Temperaturen. Die verstärkte landwirtschaftliche Nutzung des Bodens mit schweren Maschinen und die dadurch entstehende Versiegelung des Bodens. Sowie der Verlust von Retentionsraum, da Menschen in Gebieten bauen, die ein Fluss bei Hochwasser benötigt, um sich auszubreiten. Dabei muss man jedoch die jeweiligen Skalen, also Größen der betroffenen Gebiete, unterscheiden. Die landwirtschaftlichen Einflüsse sind vor allem in kleinen Einzugsgebieten von wenigen Quadratkilometern bemerkbar und auch in Städten führt die Versiegelung des Bodens zu Überschwemmungen. In großen Einzugsgebieten ab etwa 10.000 Quadratkilometern ist vor allem der Verlust von Retentionsraum das Problem. In mittelgroßen Einzugsgebieten ist hauptsächlich zunehmender Niederschlag für das Ansteigen von Hochwässern verantwortlich.
Beeinflusst der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit von Hochwässern? Obwohl viele Klimaforscher und Institutionen wie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung davon ausgehen, dass es durch die höheren Temperaturen mehr Hochwässer geben wird, ist sich Blöschl nicht so sicher, ob das immer der Fall ist, denn: „Die kalten Perioden waren bisher meist die hochwasserreichsten. Das wissen wir aus historischen Aufzeichnungen.“ Außerdem zeigte ein internationales Projekt der TU Wien, dass Winterniederschläge in Mittel- und Nordeuropa größer werden und Sommerniederschläge eher gleich bleiben. Diesen Trend errechneten sie aus den Daten von 4.262 Messstationen in 38 europäischen Staaten zwischen 1960 und 2010. Blöschl geht davon aus, dass Winterhochwässer, wie sie im Norden Deutschlands oft vorkommen, in Zukunft zunehmen und Sommerhochwässer weniger ausgeprägt sein werden. Im Nordwesten Europas steigt das Hochwasserrisiko am schnellsten, während es in Nordosteuropa aufgrund der immer dünneren Schneedecken stark abnimmt.
Regen versickern lassen
Das Teilstück der Donau, das durch die österreichische Hauptstadt fließt, ist für ein HQ5000 gerüstet, also 14.000 Kubikmeter Abfluss pro Sekunde. Grund dafür ist das bisher größte Hochwasser in Wien im Jahre 1501, auch bekannt als Himmelfahrtsgieß, das laut Schätzungen diesen Abfluss erreichte. Das größte gemessene Hochwasser in Wien ereignete sich im Jahre 2013. Ein Abfluss von 11.050 Kubikmetern wurde gemessen. „Unter den richtigen Bedingungen ist ein Hochwasser, wie jenes von 1501 aber durchaus möglich und könnte sogar noch größer sein“, mahnt Blöschl. Mit der Wahrscheinlichkeit eines 5.000stels in einem Jahr eben. „Wenn wir den Niederschlag haben, den wir im September 1899 hatten und die Bodenfeuchte, die wir im Mai 2003 hatten, kommt es in Wien zu einem HQ5000 oder Schlimmerem. Dann steht ein großer Teil der Stadt unter Wasser.“ Ziel eines guten Hochwasserschutzes ist es deshalb zuallererst, möglichst viel Niederschlag versickern zu lassen. „Im Jahr 2002 gab es das große Hochwasser in Mitteleuropa, das auch die Donau überlaufen ließ. Schuld daran war der extreme, Tage dauernde Regen. Bei so starkem Niederschlag ist es egal, ob ein Traktor über ein Feld gefahren ist und den Boden versiegelt hat. Diese Massen kann der Boden einfach nicht aufnehmen“, sagt Blöschl. Außerdem müsse man dem Fluss den Platz geben, den er bei einem hohen Pegelstand braucht. In bergigen Regionen, wo das nicht möglich ist, werden oft Rückhaltebecken gebaut, die die Anrainer bis zu einem HQ100 schützen sollen. Ein realisierbarer Standard, auf den man sich geeinigt hat. Von diesen sogenannten Poldern gibt es im bergigen Österreich tausende. „Flankierende Maßnahmen, wie die Hochwasservorhersage und das Warnen der Bevölkerung sind unabdingbar, denn die wichtigste Frage für die Anrainer ist, wie hoch der Wasserstand in zwei Tagen sein wird, damit sie sich vorbereiten können“, sagt Blöschl, „aber solche Aussagen zu treffen ist nicht einfach, da das Wetter schwer vorauszusagen ist.“
Die Wachau wurde in jüngster Zeit von drei großen Hochwässern heimgesucht. 1991, 2002 und 2013 stand das Weltkulturerbe zu großen Teilen unter Wasser. Die dortigen Feuerwehren orientieren sich an den Niederschlagsprognosen der österreichischen Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik und des Deutschen Wetterdienstes. „24 Stunden-Prognosen sind realistisch. Aber 48 Stunden … das ist Kaffeesatz lesen“, meint Feuerwehrkommandant Herndler aus Krems. Gerade dort ist man aber auf gute Prognosen angewiesen, da auf weiten Strecken mobile Aluminiumwände dazu genutzt werden, um der Donau Einhalt zu gebieten. „Wenn wir nicht in die Breite gehen können, in dem schmalen Tal, in dem wir leben, müssen wir eben in die Höhe gehen“, erklärt Herndler. Wenn das bayerische Passau Hochwasser meldet, dann ist die Welle 18 Stunden später in der Wachau. Die mobilen Wände können innerhalb von etwa sechs Stunden aufgebaut werden. Alleine in Krems werden im Hochwasserfall 890 Meter Aluminiumwand verbaut. Insgesamt finden sich in der Stadt 126 Kilometer Schutzanlagen. Dort wo es noch keine mobilen Wände gibt, werden Sandsäcke gestapelt, ersatzweise 1,2 Meter dicke, mit Wasser gefüllte Schläuche ausgelegt und Privathäuser mit Holzplatten und Brunnenschaum abgedichtet. Vor einigen Jahren lag die Vorwarnzeit noch bei 24 Stunden. Doch durch die Baumaßnahmen hat man den Querschnitt der Donau verringert und so ihre Fließgeschwindigkeit erhöht. Die Vorwarnzeit am rumänischen Donaudelta beträgt eine Woche. Am Mekong weiß man schon zwei Monate vorher, wenn eine Hochwasserwelle auf dem Weg nach Vietnam ist.
Zum Handeln gezwungen
Die mobilen Wände, die in ähnlicher Form zum Beispiel auch in Köln eingesetzt werden, lassen sich schnell wieder abbauen und verändern das Landschaftsbild nur kurzfristig. Außerdem ergreifen die Behörden Sofortmaßnahmen, etwa wenn die Wassermassen der Donau das Flussbett verlassen und sich ganze Flussläufe ändern. Dann werden neue Flussarme ausgebaggert oder Sediment vom Flussboden entfernt. In der sogenannten Trockenwanne, also dem Bereich, den die Mauern und Dämme vor der Donau schützen, wurden riesige Pumpen im Boden verbaut. Diese können im Falle einer Überflutung bis zu 60 Kubikmeter Donauwasser pro Sekunde wieder zurück ins Flussbett pumpen. Jede dieser Pumpen verbraucht so viel Strom, dass sie über eine eigene Trafostation verfügt. Der Hochwasserschutz in der Wachau obliegt den einzelnen Gemeinden. Viele haben sich für Erddämme oder Betonmauern mit unterirdischen Spundwänden entschieden, die bis zu 25 Meter in die Tiefe ragen, um das Wasser im Flussbett zu halten. In einigen Gemeinden gibt es allerdings noch Uferbereiche ohne Hochwasserschutz. „Diese Schwachstellen müssen möglichst bald geschlossen werden“, meint Feuerwehrkommandant Herndler. Beim dritten großen Donauhochwasser, das Renate Graf miterlebte, gab es in ihrem Dorf noch keinen Hochwasserschutz. Gleich nach der Katastrophe ordnete der Bürgermeister den Bau vier Meter hoher Betonmauern an, die im Jahr 2015 fertiggestellt wurden. Die sind zwar nicht schön, dafür aber sicher. „Ich räume mein Lokal jedenfalls nicht mehr aus, wenn ein Hochwasser kommt. Definitiv nicht“, sagt Graf trotzig, „denn wenn der Hochwasserschutz, den Loiben nun hat, nicht hält, ist ohnehin alles verloren.“
Viele andere Wachauer Gemeinden entschieden sich dazu, ihre Hochwasserschutzbauten, wo möglich, in die Landschaft zu integrieren. Die mobilen Aluminiumwände erhöhen die bestehenden Betonmauern dann um weitere zwei Meter. Diese Schutzmaßnahmen sind auf ein HQ100 plus zusätzliche 30 Zentimeter ausgelegt. Die Stadt Krems am östlichen Ende der Wachau überlegt, ihre Halterungen für die mobilen Wände um einen halben Meter zu erhöhen und so für die Zukunft gerüstet zu sein. Denn bereits beim Hochwasser im Jahre 2002 musste die Feuerwehr Sandsäcke auf die mobilen Wände schlichten, um die Donau am Überlaufen zu hindern. „Wir mussten die Sandsäcke mit Besen an ihrem Platz halten, sonst hätte sie uns die Donau heruntergespült“, erinnert sich Herndler. Zehn Zentimeter fehlten dem Fluss noch bis zur Oberkante der Sandsackbarriere. Bei der Hochwasserkatastrophe 1991, als es in der Wachau noch keine Wände entlang der Donau gab, waren die Wohngebiete verwüstet. Zuvor hatten einige Bewohner die Feuerwehrmänner, die in den Nachtstunden Sandsäcke stapelten, noch mit Blumentöpfen beworfen oder sie wegen nächtlicher Ruhestörung angezeigt. Das letzte große Hochwasser war 37 Jahre her; die Erinnerung daran verblasst. „Nach der Flut wurden wir dann von denselben Leuten mit Kaffee und Kuchen bewirtet“, erzählt Herndler, „sie haben gelernt, dass ein Hochwasser etwas Ernstes ist.“
Den Inn nachgebaut
An der Universität Innsbruck gehen Bernhard Gems und Adrian Lindermuth gemeinsam mit anderen Forschern der Frage nach, wie man tausende Tiroler Familien, die in der Nähe des Inn wohnen, vor Hochwässern schützen kann. Meist werden dafür Computersimulationen eingesetzt, aber: „Es gibt komplexe, dreidimensionale Prozesse, wie etwa Strömungsprozesse an Bauwerken oder die Bewegung von Schwemmholz, die Computer noch nicht vollständig abbilden können“, erklärt Gems. Deshalb haben die Forscher auf einer Fläche von 18,6 x 9 Metern ein physikalisches Landschaftsmodell des Inn im Verhältnis 1:35 nachgebaut. Das Modell stellt einen Ausschnitt im Bereich des geplanten Einlaufbauwerks in den Retentionsraum Voldöpp bei Kramsach naturgetreu dar. Der Retentionsraum soll einen Teil des Spitzenabflusses zwischenspeichern und wieder abfließen lassen, wenn der Pegel des Inn zurückgegangen ist. Denn derzeit hat der Spitzenabfluss eines HQ100 nicht überall im Inn Platz.
„Heutige Computer brauchen noch immer sehr lange, um komplexe Modelle in längeren Wasserabschnitten zu berechnen. Unsere Messergebnisse im Modell können aber auch für die Kalibrierung numerischer Modelle verwendet werden“, erklärt Lindermuth. Um vernünftige Modelle eines Gebietes bauen zu können, braucht man möglichst genaue topografische Daten, die mit Hilfe einer terrestrischen Vermessung oder durch Überfliegen mit spezieller Lasertechnologie erhoben werden. Den Abfluss eines Hochwassers muss man sich vorstellen, wie ein Wellendiagramm, wobei die x-Achse die Zeit darstellt und die y-Achse die Wassermenge. Am Scheitelpunkt der Welle ist das meiste Wasser im Flussbett und das Risiko, dass es über die Ufer tritt, am größten. Der Retentionsraum Voldöpp soll nun jene Wassermenge, die über die Ufer des Inn treten würde, zwischenspeichern. Im deutschen Flachland gibt es etwa entlang des Rheins große Retentionsflächen. Bei Hochwasser werden einfach Einlaufbauwerke geöffnet und der Rhein ufert kontrolliert aus, direkt in die für die Wassermassen geschaffenen Polder. Im bergigen Österreich kann nur ein kleiner Teil der Welle zwischengespeichert werden.
Die Forscher der TU Innsbruck beschäftigen sich auch stark mit der Abflussbildung, die zum Beispiel zu Hangwässern führt. Diese sind auch eine Herausforderung für die Wachauer Feuerwehren, erklärt Feuerwehrkommandant Herndler: „Denn ein Hang aus Lehm, wie er hier typisch ist, kann kaum Wasser aufnehmen. Baut jemand trotzdem ein Haus daneben, kann es sein, dass wir an einem regnerischen Wochenende vier Mal ausrücken müssen, um den Keller frei zu pumpen und den Schlamm weg zu schaufeln. Besonders gefährlich sind Hangwässer oder Wildbäche aber aufgrund ihrer Geschwindigkeit. Je steiler das Gelände ist, an dem Wasser abläuft, desto mehr Feststoffe wie Schlamm, Steine oder Holz transportiert das Gewässer mit sich. Dieses Geschiebe kann die Höhe der Flusssohle oft um mehrere Meter nach oben oder unter verändern, hat also einen großen Einfluss auf den Pegelstand. Bei Hochwässern in großen Flüssen wird üblicherweise kaum Geschiebe beobachtet. Feine Sedimente wie Sand oder sonstiges Material, das kleiner als einen halben Millimeter ist, findet sich darin allerdings in großen Mengen. „Es gibt eine Interaktion zwischen der Wasserströmung und der Struktur des Bodens“, erklärt Hydrologe Blöschl. „läuft das Wasser oberflächlich ab, können sich Erosionsgräben bilden. Das führt dazu, dass das Wasser noch schneller abfließt.“ Die Forscher nennen diesen Prozess Feedback. Das schnell fließende Wasser gräbt sich in den Boden, wird immer schneller und gräbt sich dadurch immer tiefer ein. Auch im Fluss selbst spielt das Feedback eine Rolle. In der Praxis bedeutet das, dass das schnell fließende Wasser die Flusssohle abträgt.
Stau im Fluss
Werden solche Steine, Holz oder andere Gegenstände mitgerissen, kann eine sogenannte Verklausung entstehen. Das Material verkeilt sich an einer Engstelle und staut das Wasser zurück. Der Retentionsraum Voldöpp in Tirol soll durch ein Einlaufbauwerk mit vier Wehrfeldern gespeist werden. Werden diese durch Schwemmholz blockiert, sodass das Wasser nicht mehr durchfließen kann, kann das dazu führen, dass der Inn über die Ufer tritt. Im Wasserbaulabor zeichnen deshalb Kameras auf, wie sich Holz - in diesem Fall Äste unterschiedlicher Größe - im Modell des Inn bewegt. Werden die Holzstücke einzeln oder in großen Gruppen transportiert? Wie bewegt sich Holz im Bereich des Einlaufbauwerks, in einer Außen- und in einer Innenkurve des Flusses? Dafür verfolgt eine Software jedes einzelne Stück Holz und bildet dann seinen zurückgelegten Weg ab. Ein von Lindermuth entwickelter Prototyp einer Anlage gegen Verklausung ist im Modell bereits integriert. „Im Labor sind es noch einfache Holzstäbe, die basierend auf den Versuchsergebnissen so angeordnet wurden, dass ihr Abstand zum Einlaufbauwerk möglichst groß ist. Sie sollen nur jene Holzstücke auffangen, die tatsächlich ein Risiko für die Anlage darstellen. Dafür sind komplexe Untersuchungen und Auswertungen nötig“, erklärt Lindermuth. „Das Wasser ist schon faszinierend“, findet Feuerwehrkommandant Herndler, „entlang unserer mobilen Wände rauscht es mit ungeheurem Tempo vorbei, auf der anderen Seite der Donau dümpelt es langsam vor sich hin.“ Dennoch zeigen Wissenschaftler mit ihren Modellen, dass es berechenbar ist.
Im Jahr 2013 ahnte Heurigenbesitzerin Renate Graf bereits, was auf sie zukommen würde, als ein atmosphärischer Fluss über Mitteleuropa zog. Dabei handelt es sich um bis zu 600 Kilometer breite und mehrere tausend Kilometer lange Bänder aus feuchter Luft, die vom Äquator her zu uns strömen können. Der durch diesen atmosphärischen Fluss entstandene tagelange Regen konnte aufgrund des gesättigten Bodens nicht mehr versickern und führte zu schweren Überflutungen. Graf reagierte gelassen und routiniert: „Ich habe alles ausgeräumt, den Gemüsegarten zugeschüttet, um eine Lagerfläche zu haben. Geflutet oder gedämmt habe ich das Lokal auch nicht mehr. Bringt ja nichts.“ Der Schaden im Lokal betrug 57.000 Euro. Dennoch: Nach einer Woche öffnete das Heurigenlokal wieder seine Pforten. „Man braucht das im Kopf“, sagt Graf, „dieses ‚Jetzt geht es weiter‘. Es ist nur das Lokal. Meine Wohnung im Obergeschoss ist heil geblieben; und das ist wichtig“. Heute ist fast die gesamte Wachau gegen Hochwässer geschützt. Die Landschaftsplaner haben einen Weg gefunden, das Weltkulturerbe zu erhalten und seine Bevölkerung zu schützen. „Die Donau war schon vor uns da“, fasst Graf zusammen, „und sie wird auch nach uns noch da sein. Wir müssen uns schon mit ihr arrangieren.“
Markus Feigl für Bild der Wissenschaft, 2018
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